Auf der Südseite des Vulkans gibt es die Möglichkeit, auf der feinen Asche ins Tal abzugleiten. Wir lassen uns dieses Vergnügen nicht entgehen. Am Fuß des Berges rutschen wir in einem kleinen Canyon weiter nach unten, dessen Tiefe zuerst etwa 2-3 m beträgt und weiter unten immer flacher wird. Unten suchen wir nach Anzeichen eines steil in die Aschen eingeschnittenen Bachbetts, das uns zur Asphaltstraße zurückbringen soll. Rainer ist diesen Weg schon mehrfach gegangen, er weiß aber auch, dass das Bachbett erst ziemlich weit im Süden beginnt. Also gehen wir den Hangfuß entlang nach Südwesten, geraten dabei jedoch mehr und mehr in die Macchia.
Die Macchia ist ein dichtes Gestrüpp aus niedrigen Bäumen, Sträuchern und Dornbüschen mit immergrünen harten Blättern. Bei dichtem Bewuchs ist die Macchia unüberwindlich.
So kämpfen wir uns in der Hitze des Tages immer weiter, bis wir glauben, den Einschnitt zwischen der Fossa und dem Piano-Plateau zu erkennen. Nach Osten fällt der Talboden des Einschnitts zum Meer hin ab, nach Westen zum Inselinneren und damit zurück zur Straße. Unter großen Mühen schlagen wir uns durch die Macchia, von Dornen zerkratzt, uns manchmal nur über die Entfernung durch Rufen verständigend, rutschen wir endlich in ein kühles Trockenbachtal. Wir atmen auf, verschnaufen und brechen unsere letzte Mineralwasserflasche an. Wir sind ja bald im Ort.
Das Bachbett hat sich stellenweise bis 5 m tief in die vulkanischen Aschen eingeschnitten und legt ein phantastisches geologisches Profil frei. Wir erkennen feinste Kreuzschichtungen schwarzer und grauer Aschen, teils durchsetzt mit Steinen und Lapili, wir sehen ehemalige Kluftfüllungen, die nach der Auswitterung der Aschen wie Schutzschirme oder Segel stehen geblieben sind.
Weil das Bachbett zunächst noch leicht nach Osten abfällt, ist Rainer skeptisch, ob das der richtige Weg ist. Er glaubt aber, dass es so ein tief eingeschnittenes Trockental auf Vulcano nur ein Mal gibt. Auch glaubt er, die Lokalität wieder zu erkennen. Als das Gefälle nach Osten aber anhält und das Bachbett allmählich breiter wird und zunehmend auch von niedrigen Büschen bewachsen ist, kommen Rainer erste Zweifel. Dummerweise sagt er aber nichts von seinen Zweifeln und lässt alle weiter laufen.
Plötzlich liegt vor uns ein Skelett. Wir gehen näher heran und erkennen die ausgebleichten weißen Gebeine einer Ziege. Kai trennt den Schädel vom Rest und nimmt ihn mit. Und wir finden immer mehr Ziegenskelette. Wir fragen uns, wo die Skelette herkommen. Gibt es hier Bären oder Wölfe? Nein, das kann nicht sein, aber Füchse, denken wir, gibt es hier schon. Wir glauben, dass die Ziegen die steilen Klippen herab gefallen und verendet sind. Vielleicht haben kleinere Raubtiere und Vögel - es gibt hier viele Raben - das Fleisch gefressen und die Knochen abgenagt. An unserer Theorie ändert sich auch nichts, als wir immer wieder leere Patronenhülsen finden. Welcher Insulaner knallt schon seine eigenen Ziegen ab? Und lässt sie dann auch noch liegen? Die Jäger werden wohl die hier zahlreichen Karnickel geschossen haben. So ganz wohl ist uns bei der Sache aber nicht, vielleicht ist alles doch ganz anders.
Endlich gibt Rainer zu, dass er sich verlaufen hat. Verlaufen im Tal der toten Ziegen. Er muss es zugeben, denn das Bachbett endet in einem riesigen Talkessel mit senkrechten, hundert Meter hohen Wänden. Hier ist kein Weiterkommen. Da wir noch nicht ganz im Inneren des Talkessels sind, versuchen wir, einen weniger senkrechten Hang rechter Hand hoch zu klettern. Hier gibt es Aschen und Gott sei Dank lichte Macchia.
Mit Mühe schaffen wir die Steigung, oben auf dem Grad schwindet unsere gute Laune schnell. So weit wir sehen können, erkennen wir nur weglose Macchia, die immer dichter wird. Die Sträucher sind hier aber nicht so hoch, als dass wir nicht über sie hinweg schauen könnten. So erkennen wir wenigstens ungefähr unsere Zielrichtung ins nächste Tal. In das Tal, in das wir eigentlich wollten. Wir versuchen es geradeaus, rechts und links, teilen uns, finden uns wieder zusammen. Essensvorräte haben wir nicht mitgenommen, Wasser gibt es nicht mehr. Jetzt nur keine Panik.